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„Bilanz enttäuschend“: So blicken Industrie, Mittelstand und Start-ups auf die schwarz-rote Regierung
Neue Wirtschaftszahlen am Donnerstag sind auch eine Art Zwischenzeugnis für das erste halbe Regierungsjahr. Über die Lage der deutschen Wirtschaft und die Arbeit sowie Erwartungen an Union und SPD.
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Auch Ankara wird am Donnerstag nach Wiesbaden schauen. Zumindest Bundeskanzler Friedrich Merz, der dort dem türkischen Staatspräsidenten seinen Antrittsbesuch abstatten wird. In Deutschland wird das Statistische Bundesamt am Morgen seine Schätzung für das dritte Quartal veröffentlichen.
Die Prognosen sind alles andere als gut. Nach einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im Frühjahr um 0,3 Prozent, könnte Deutschland erneut in eine Rezession rutschen, wenn das Bruttoinlandsprodukt zwei Quartale in Folge sinkt. Ökonomen rechnen mit Werten zwischen -0,1 bis +0,1 Prozent.
Für Friedrich Merz, der die wirtschaftliche Stimmung schon im Sommer gedreht haben wollte, ist es eine Art Zwischenzeugnis. Das dritte Quartal ist sein zweites als Kanzler. Der Aufschwung lässt bisher weiter auf sich warten. Stattdessen dominieren Meldungen über Gewinneinbrüche, Entlassungswellen und Firmeninsolvenzen. Kommt das Wachstum nicht in Gang, dürfte dies neuerliche Kürzungsdebatten in Gang setzen und den ohnehin fragilen Koalitionsfrieden auf eine nächste Probe stellen. Wie schätzen Ökonomen die wirtschaftliche Lage ein?
Zunächst ist mit Stagnation zu rechnen
„Die Konjunktur ist derzeit schwach“, sagt Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts. Firmen vor allem in der Autobranche sind nicht ausgelastet, die Nachfrage aus dem Ausland schwach, die Unsicherheit durch Trumps Zollpolitik sowie Chinas Antwort darauf hoch. All das wird nach den Einschätzungen der Bundesregierung dazu führen, dass die deutsche Wirtschaft nach zwei Jahren des Schrumpfens auch 2025 nur stagnieren dürfte. Erst 2026 und 2027 soll das Wachstum mit 1,3 und 1,4 Prozent wieder kräftig anziehen. Ein Erfolg der Merz-Regierung?
„Positiv ist, dass die Bundesregierung das Wiedererlangen zu Wirtschaftswachstum in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt hat“, sagt Fuest dem Tagesspiegel. Positiv bewerten er und andere Ökonomen etwa den Wachstumsbooster, also die Einführung steuerlicher Investitionsanreize für Firmen.
„Aussicht auf Besserung im kommenden Jahr besteht, weil die Regierung hohe Schulden aufnimmt und mit dem Geld staatliche Nachfrage schafft“, so Fuest. Strukturell befindet sich Deutschland weiter in einem Schrumpfungsprozess. Das kann man unter anderem daran erkennen, dass die privaten Investitionen seit Jahren fallen und mittlerweile auf dem Niveau von 2015 angekommen sind. „Es ist von zentraler Bedeutung, diesen Trend umzudrehen“, sagt Fuest.
Gerade in den Unternehmen hoffte man, dass diese Trendwende schon früher einsetzen würde. Die Vorschusslorbeeren für Friedrich Merz und seine neue Regierung waren groß. Doch die positive Stimmung hatte sich nach der verunglückten Kommunikation um die Stromsteuerentlastung sowie dem groß angekündigten und später relativierten Herbst der Reformen wieder eingetrübt. Ob bei Industrie, Mittelstand oder Start-ups: Mittlerweile blickt man mit eher gemischten Gefühlen, dafür noch höheren Erwartungen auf die Arbeit von Union und SPD.
Entscheidend ist, was tatsächlich bei den Betrieben ankommt. Und hier ist die Bilanz bislang enttäuschend.
Helena Melnikov, Hauptgeschäftsführerin DIHK
Industrie: „Bilanz bislang enttäuschend“
Gerade in der deutschen Industrie ist die Lage weiter angespannt, allen voran in der Autoindustrie. Porsche, Mercedes, VW und Co. brechen infolge hoher Kosten, geringer Nachfrage und dem schleppenden Hochlauf der Elektromobilität die Gewinne weg. Dazu kommen Versorgungsengpässe, weil sich einzelne Hersteller von Nexperia-Chips abhängig gemacht haben, deren Export Chinas Regierung unterbunden hat.
„Die wirtschaftliche Lage ist sehr ernst: Unternehmensinsolvenzen erreichen Rekordhöhen, Exporte gehen zurück, die Industrieproduktion sinkt“, sagte Helena Melnikov, Chefin der Deutschen Industrie- und Handelskammer dem Tagesspiegel. „Ein Aufschwung ist nicht in Sicht.“ Auch aus ihrer Sicht hat die Bundesregierung bisher nur erste Impulse gesetzt und Maßnahmen angestoßen. Doch entscheidend sei, was tatsächlich bei den Betrieben ankommt. „Und hier ist die Bilanz bislang enttäuschend.“

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Auch beim BDI, dem Spitzenverband der Industrie, stellt man erste Entlastungen etwa bei Netzentgelten und Gasspeicherumlage positiv heraus. „Doch das kann nur der Anfang sein“, sagte BDI-Chefin Tanja Gönner dem Tagesspiegel: „Die Politik muss jetzt Geschwindigkeit aufnehmen und auf allen Ebenen wirtschaftliches Wachstum priorisieren.“
Beide fordern Union und SPD auf, nun auch strukturelle Reformen anzugehen. Darunter: Weniger Bürokratie, geringere Energiekosten, Steuern und Sozialabgaben, schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie eine konsequente Digitalisierung der Verwaltung.
Mittelstand: „Niemand erwartet Heldentaten“
Auch mittelständische Firmen stecken weiter in der Krise. Zahlreiche Firmen, darunter Miele, ZF und Bosch, bauen tausende Stellen ab. Der aktuelle Chipengpass trifft auch sie. So bereitet der Autozulieferer Bosch vor, seine Mitarbeitenden in Salzgitter kommende Woche in Kurzarbeit zu schicken. Die Geschäftserwartungen hellen sich nur langsam auf. Getragen sind sie auch davon, dass sie durch staatliche Investitionen mehr Aufträge bekommen.
Geduld und Hoffnung der Unternehmerinnen und Unternehmer sind nahezu vollständig aufgebraucht.
Christoph Ahlhaus, Chef des Mittelstandsverbands BVMW
Das Zwischenzeugnis für den Kanzler fällt auch hier noch verhalten aus. „Nach der vermurksten Ampel-Legislatur hatten viele Mittelständler, denen das Wasser bis zum Hals steht, große Hoffnungen in die neue Bundesregierung gesetzt“, sagt Christoph Ahlhaus, Chef des Mittelstandsverbands BVMW. „Doch Geduld und Hoffnung der Unternehmerinnen und Unternehmer sind nahezu vollständig aufgebraucht.“
In einer aktuellen Umfrage seines Verbandes erwarten mehr als 81 Prozent der Firmen keine spürbare Verbesserung durch den Herbst der Reformen.
Der Mittelstand hat auch 2025 Kapazitäten reduziert. 17,6 Prozent der Unternehmen meldeten einen Personalabbau und nur 15,3 Prozent haben zusätzliche Stellen geschaffen. „Niemand erwartet Heldentaten oder Wirtschafts-Wunder mit der Kettensäge“, sagte Ahlhaus dem Tagesspiegel. „Dass aber nach gut einem halben Jahr Schwarz-Rot noch immer nicht klar ist, wohin die Reise gehen soll und wann der Herbst der Reformen nun endlich startet, frustriert viele – und zwar völlig zurecht.“
Start-ups: „Gründerinnen und Gründer bleiben optimistisch“
In der Gründerszene ist die Lage kaum besser. „Die wirtschaftliche Lage von Start-ups ist aktuell herausfordernd“, sagte Verena Pausder, Vorsitzende des Startup-Verbands dem Tagesspiegel. „Das Geschäftsklima ist so niedrig wie seit der Corona-Zeit nicht mehr, auch wegen der Zurückhaltung bei Investitionen.“
Doch es ist immerhin etwas freundlicher als in der Gesamtwirtschaft. Auch die Gründungsaktivität ist weiter auf hohem Niveau. Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden bundesweit 1.500 Startups gegründet – das sind neun Prozent mehr als im zweiten Halbjahr 2024. „Gründerinnen und Gründer bleiben optimistisch“, sagt Pausder.

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Über 5,4 Milliarden Euro wurde dieses Jahr in deutsche Start-ups investiert. Das ist zwar mehr als im Vorjahr, doch viele bewerten die Finanzierungsbedingungen weiter als schlecht. Die von der Bundesregierung angekündigte Startup- und Scaleup-Strategie lässt weiter auf sich warten. Von ihr verspricht man sich in der Szene Impulse für Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft. Pausder pocht auf eine „stärkere politische Priorisierung“. Im Kern heißt das: „Mehr Kapital und weniger Bürokratie.“
Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Merz-Regierung sendet bisher gemischte Signale. Zwar stießen einzelne Maßnahmen über alle Wirtschaftsbereiche hinweg auf Zustimmung. Doch gerade im strukturellen Bereich sieht man in kleinen wie großen Firmen weiter Handlungsbedarf.
„Eine überzeugende Wachstumsstrategie müsste deutlich weiter gehen als das, was bisher diskutiert wird“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest. Für ihn sind drei Ziele zentral. „Es muss in Deutschland wieder attraktiver werden, zu arbeiten, zu investieren und zu innovieren.“ Um sie zu erreichen, braucht es nicht nur aus seiner Sicht Reformen, die weit über den Koalitionsvertrag hinausgehen.
„Wünschenswert wäre, dass die neue Regierung den Mut aufbringt, notwendige grundlegende Reformen bei den Sozialversicherungen, zum Beispiel bei der Rente, durchzuführen“, sagte die Ökonomin Geraldine Dany-Knedlik dem Tagesspiegel. Reformpolitik anzukündigen und voranzutreiben, sei der richtige Ansatz. Aber nun müssten auch entsprechende Taten folgen.
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